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11. Dezember 2019 - Interview

Interview: Feministin mit Kopftuch – geht das?

Was verbindet Bundeskanzlerin Merkel, Lady Gaga und Demi Moore? Jede von ihnen sagte in einem Interview, dass sie keine Feministin sei. Lady Gaga hatte sogar das Bedürfnis hinzuzufügen, dass sie Männer liebe. Ist es ein Widerspruch, Männer zu lieben und FeministIn zu sein? In Deutschland lehnen einige selbsternannte Sprecherinnen des Feminismus die Idee ab, dass jeder Mensch FeministIn sein kann – keinesfalls Frauen, die Muslimas sind und ein Kopftuch oder eine Burka tragen. Was bedeutet es, FeministIn zu sein? Gibt es Ausschlusskriterien? Wir haben zwei Kopftuch tragende Mitarbeiterinnen von Medica Afghanistan danach gefragt. Sie waren im November in unserer Kölner Zentrale zu Gast: Programmdirektorin Saifora Ibrahim Paktiss und Vida Faizi, Programmleiterin der Abteilung für psychosoziale Beratung.

Warum ist eine Frau oder ein Mann FeministIn? Die schwedische Außenministerin Margot Wallström sagte einmal:

„Der Feminismus vertritt die radikale Idee, dass Frauen Menschen sind.“

Hört sich einfach an. Es geht um Menschenrechte, nicht wahr?

 

Würden Sie über sich selbst sagen, dass Sie eine Feministin sind?

Saifora Paktiss: „Bevor ich zu Medica Afghanistan kam, bezeichnete ich mich selbst als Feministin ohne recht zu wissen, was das im täglichen Leben bedeutet. Inzwischen sehe ich ganz klar die Gründe, warum ich Tag für Tag Feministin sein sollte. Wir von Medica Afghanistan sind für Frauen und Mädchen in Afghanistan im Einsatz, die täglich Leid erfahren. Und es sind nicht nur sie, die leiden, sondern wir selbst. Als Frauen haben auch wir Frauenrechtlerinnen unsere Herausforderungen bei der Arbeit und Zuhause, selbst mit unseren eigenen Familienmitgliedern und anderen Personen in unserem Umfeld, seien sie männlich oder weiblich. Also ja, ich bin eine Feministin. Ja!"

Vida Faizi: „Natürlich ist es nicht einfach, feministische Werte zu leben. Während den 16 Jahren, die ich inzwischen bei Medica Afghanistan arbeite, habe ich gelernt, Feministin zu sein. Vorher habe ich nicht geglaubt, dass dies in einem Land wie Afghanistan möglich ist. Außerdem dachte ich lange, Feministin zu sein bedeute Frauen zu lieben und Männer zu hassen. Damals hatte ich eben eine andere Ansicht. Jetzt habe ich mit meinem ganzen Wesen und meiner Seele verstanden, was es heißt, Feministin zu sein. In einem Land wie Afghanistan brauchen Frauen mich und meinen Einsatz für ihre Rechte.
Ob afghanische oder europäische Frauen: Überall auf der Welt sehe ich sie einfach als Frauen. Ich mache keine Unterschiede nach Religion oder irgendetwas anderem. Nach und nach kam ich zu dem Schluss, mich als Feministin zu sehen. Ja, ich kann mit Recht behaupten, dass ich eine Feministin bin. Ich bin stolz darauf, dass ich seit vielen Jahren für Frauen in Afghanistan arbeite. Überall werde ich Feministin sein. Wenn du erst einmal ein feministisches Bewusstsein hast, kann dir das niemand mehr nehmen."

Warum brauchen wir Feminismus?

Vida Faizi: „Wenn eine Frau lacht, lache ich mit, wenn eine Frau weint, versuche ich sie zu unterstützen. Die Welt braucht hundertprozentigen Feminismus. Viele Menschen sollten feministisch eingestellt sein, um von Herzen für Frauen zu arbeiten. So sieht’s aus."

Saifora Paktiss: „Das Trauma, das viele Frauen erfahren, ist ein Gefühl im Herzen. Ein Schmerz, den du nicht sehen kannst, der aber da ist. Eine feministische Perspektive hilft dir, den Schmerz nachzuempfinden, den Frauen Tag für Tag in unserer Gesellschaft erleben, nur weil sie Frauen sind.“
 

Wir haben unseren Kolleginnen erklärt, dass es in Deutschland eine breite Diskussion über Feminismus und die islamische Religion gibt. Dass manche Leute sagen, es sei nicht möglich, beides zu leben – vor allem nicht für Frauen, die ihre Haare oder ihr Gesicht aus religiösen Gründen verschleiern. Wir haben sie gefragt:

Ist es möglich, Muslimin und Feministin zu sein?

Saifora Paktiss: „Ich war mehrere Male in Deutschland. Es gab einige Vorfälle, bei denen ich ein Gefühl der Diskriminierung als Muslimin wahrgenommen habe. Ich meine, Feminismus ist nicht abhängig von oder beschränkt auf ein Land, eine Religion, eine Kultur oder Sprache, nicht auf West oder Ost und all das. Feminismus ist eine Idee, es ist eine Überzeugung, die sich verschiedenen Kontexten anpasst. Muslimin und Feministin zu sein ist also möglich. Wir haben sogar ein vergleichbares Konzept im Islam. Demnach sollen alle unsere Beziehungen zu anderen Menschen auf Empathie und Würde beruhen. Muslimisch, nicht muslimisch, schwarz, weiß oder irgendetwas anderes – der Feminismus schließt niemanden aus.“

Vida Faizi: „Es gibt kein Problem zwischen Islam und Feminismus. Das Problem ist, wie manche Muslime ihre Religion interpretieren und ausleben. Bei unserer Arbeit für Medica Afghanistan unterstützen wir jede Frau. Muslimische Feministin zu sein hat für mich nichts mit Äußerlichkeiten zu tun, sondern mit einer Denk- und Lebensweise. Es hat nichts mit meinem Kopftuch zu tun. Ich respektiere alle Religionen. Der Islam ist für mich als Feministin kein Hindernis.“

Ist das Bedecken von Haaren oder Gesicht kein Zeichen für die Unterdrückung von Frauen?

Vida Faizi: "In Afghanistan ist es durchaus ein großes Risiko, feministisch zu leben oder über die Rechte der Frauen zu sprechen. Viele Menschen tun sich damit nicht leicht und sind nicht mutig genug, über Frauenrechte zu sprechen. Als Frauenrechtsorganisation erhalten wir viele Drohungen – personenbezogen und als Gruppe. Ich habe zweimal mein Zuhause wechseln müssen. Natürlich sind wir alle gestresst. Afghanistan ist ein Land, in welchem die Kultur eine wichtige Rolle spielt. Die Menschen nehmen die Kultur zunehmend wichtiger als die Religion. Manche Menschen können nicht einmal zwischen kulturellen Gepflogenheiten, staatlichem Recht und der Scharia unterscheiden. Sie vermischen alles. Das ist das Problem, nicht die Religion selbst.“

Saifora Paktiss: "Wenn ich in westliche Länder reise und jemanden in Shorts oder ähnlicher Kleidung sehe, dann akzeptiere ich das. Ihre Kultur und ihre Tradition ermöglicht es ihnen, sich so zu kleiden. Für mich ist das Bedecken meiner Haare ein Symbol meiner Kultur, meines Glaubens. Es ist keine Unterdrückungssache. Als ich anfing, meine Kopfbedeckung zu tragen, sahen mich mein Vater und meine Brüder verwundert an: ‘Ah, du trägst einen Schleier’. Ich sagte: ‘Ja, ich fühle mich darin sicher.’ Es geht also wirklich nicht um Unterdrückung.
Sogar in meinem eigenen Land machte mir mein Kopftuch Probleme. Ich wollte unbedingt Diplomatin werden und absolvierte die Prüfung des Auswärtige Amts. Am Ende der mündlichen Prüfung sagte der Leiter der politischen Abteilung, ein Afghane: ‘Entschuldigen Sie, Saifora, Ihr Kopftuch ist nicht geeignet für die Arbeit im Außenministerium.’ Dann sagte ich sehr respektvoll: ‘Sir, Sie müssen meinen Verstand beurteilen, aber doch nicht meine Garderobe.’ Okay, das bedeutete: keinen Job. Das passierte mir in meinem eigenen Land. Wie kann ich da Menschen aus anderen Kulturen Vorhaltungen machen? Damals beschloss ich, dass mein Kopftuch nirgends zur Debatte stehen wird. Es ist meine eigene Wahl. Jeder Mensch kann alles sein. Dieses Kopftuch ist ein Symbol für meine Identität, meine Religion, meinen Glauben und meine kulturelle Tradition."

Wir danken Saifora Ibrahim Paktiss und Vida Faizi für das Interview.

Autorin: Christine Vallbracht, Online-Referentin bei medica mondiale


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