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01. Februar 2019 - Meldung

Afghanistan: Gewalt gegen Frauen innerhalb der Familie bekämpfen

Ohne die Familie überleben? Für den Großteil der afghanischen Frauen und Mädchen ist das unmöglich. Zu ausgeprägt sind die Abhängigkeiten und Ungleichbehandlungen von Frauen im Alltag. Laut einer Studie des afghanischen Gesundheitsministeriums muss selbst eine ärztliche Behandlung bei mehr als der Hälfte der Frauen vom männlichen Familienoberhaupt genehmigt werden. Aufgrund dieser herausragenden Bedeutung der Familie haben die Expertinnen von Medica Afghanistan schon 2017 die Familienberatung verstärkt in ihr Konzept gegen Gewalt an Frauen integriert. Gelingt es, die Gewalt in den Familien zu verringern, ist der Weg für ein friedvolleres Zusammenleben in der Gesellschaft geebnet.

„Die Familie meines Mannes behandelte mich wie ein Tier“

Laut der Studie des afghanischen Gesundheitsministeriums werden in Afghanistan mehr als 60 Prozent der Frauen zwangsverheiratet – meist minderjährig. Weit mehr als die Hälfte dieser verheirateten Frauen erlebt körperliche, psychische, sexualisierte oder emotionale Gewalt in der Ehe. Nur etwa ein Drittel von ihnen sucht sich Hilfe und spricht überhaupt über die erfahrene Gewalt.

Ein Beispiel:
Rashida wuchs in ärmlichen Verhältnissen mit ihren Geschwistern und ihrem gewalttätigen Vater in Mazar-i-Sharif auf. Sie versprach sich ein besseres Leben, als sie mit 15 mit einem Freund der Familie verlobt wurde. Doch die Familie ihres Ehemanns bezichtigte sie der Unzucht vor der Ehe. Sie züchtigten sie mit körperlicher Gewalt und zwangen sie zu einem Jungfräulichkeitstest in einer Privatklinik. Diese entwürdigenden Ereignisse erschütterten Rashida dermaßen, dass sie einen Selbstmordversuch unternahm: „Obwohl ich unschuldig war, behandelte mich die Familie meines Mannes wie ein Tier.“ Im Krankenhaus lernte sie die Beraterinnen von Medica Afghanistan kennen. Die stärkenden, traumasensiblen Gespräche weckten Rashidas Selbstwertgefühl und Lebensmut: „Ihr habt mir das Tor zum Glück geöffnet.“ Hinzu kam die rechtliche Unterstützung der Anwältinnen von Medica Afghanistan. Sie konnten eine Entschädigungszahlung vor Gericht erwirken.

Innerhalb der Familie die Spirale der Gewalt gegen Frauen durchbrechen

Dass sich Frauen dazu entschließen, ihnen widerfahrene Körperverletzung, Verstümmelung oder Vergewaltigung anzuzeigen, zeugt von besonders großem Mut. Nicht selten werden sie dafür von ihren Familien ausgeschlossen, von ihren Kindern getrennt oder von Gerichten trotz eindeutiger Rechtslage abgewiesen. Dadurch wächst der Druck auf die Frauen, viele lassen ihre Klagen wieder fallen.

Das Bedürfnis, Probleme innerhalb der Familie zu lösen, ist in der afghanischen Gesellschaft sehr ausgeprägt, wobei die Akzeptanz für externe Unterstützung zunehmend wächst. Gelingt es, gemeinsam mit den Familienmitgliedern die endlose Spirale der Gewalt zu durchbrechen, kann dies neue Perspektiven eröffnen. Inga Weller, Projektreferentin Afghanistan bei medica mondiale: „Oft sehen Frauen nur die Möglichkeit, sich mit der eigenen Familie oder der Familie des Mannes zu versöhnen und äußern den Wunsch nach Beratung und Rückkehr. Medica Afghanistan unterstützt sie dabei, achtet jedoch darauf, dass die Frauen stets eine selbstbestimmte, informierte Entscheidung treffen. Die Familienberatung schließt daher meist an eine individuelle rechtliche und psychosoziale Beratung an und geschieht auf Wunsch der Frau.“

Sowohl in der Familienberatung, als auch in der Familienmediation arbeiten Anwältinnen, Sozialarbeiterinnen, psychosoziale Beraterinnen und Psychologinnen von Medica Afghanistan mit ganzheitlichem Konzept Hand in Hand. Während sich die Anwältinnen mit den rechtlichen Fragen befassen, Klientinnen über ihre Rechte aufklären, sie informieren und sie – wenn gewünscht – vor Gericht vertreten, liegt der Schwerpunkt bei familiären Konflikten bei der traumasensiblen sozialpsychologischen Beratung. Rechtliche Mediation kann in Anspruch genommen werden, um Scheidungsverfahren, Sorgerecht, Unterhaltsrecht und finanziellen Ausgleich vor der eigentlichen Verhandlung zu erzielen.

Die Familie als Agentin des Wandels

In Afghanistan herrscht seit fast zwei Jahrzehnten eine ununterbrochene Kriegs- und Krisensituation. Diese Lebensumstände bringen fortwährenden Stress, Überlebenskampf und traumatische Erfahrungen für alle mit sich. Erfährt eine Gruppe – wie zum Beispiel Frauen – bereits in Friedenszeiten Benachteiligung und Gewalt, verstärken sich diese Mechanismen in der Krise. In der Familienberatung von Medica Afghanistan werden diese Zusammenhänge, wie beispielsweise gewaltfördernde Geschlechterrollen, intensiv bearbeitet. In Einzel- und Gruppengesprächen wird der Austausch und das Vertrauen zwischen den Familienmitgliedern schrittweise und unter Festlegung von überprüfbaren Zwischenzielen verbessert. Ursprünge von Stress und Spannungen werden bearbeitet, Versöhnung aktiv unterstützt.

Die Interessen, der Schutz und die Stärkung der gewaltbetroffenen Frauen stehen stets im Mittelpunkt der feministischen Familienberatung. Ziel ist es, Gewalt zu beenden, Familienmitglieder zusammenzuführen und langfristig Gewalt vorzubeugen. Dabei werden den Familienmitgliedern ihre Rollen verdeutlicht und die zerstörerischen Auswirkungen von Gewalt erklärt. Im besten Fall gewinnt die Familie die Einsicht, dass Familienfrieden und gewaltfreies Leben sich auch positiv auf das wirtschaftliche Leben der Familie auswirkt und langfristig die Gesellschaft zum Besseren verändert. Der Wille zur Veränderung entsteht.

Ein Beispiel:
Bahar wurde mit 16 zwangsverheiratet und erlebte daraufhin 20 Jahre lang ein eheliches Martyrium: „Ich fühle eine schwere Last auf meiner Brust. Mein Ehemann schlägt und vergewaltigt mich. Unsere sechs Kinder sind ihm egal. Ich möchte sterben.“ Bahar litt unter schweren Depressionen und wurde des Lebens überdrüssig. Den Psychologinnen von Medica Afghanistan gelang es, im Beratungsprozess ihre stress- und traumabedingten Symptome zu reduzieren. Gleichzeitig fand eine Familienberatung statt. Als Ergebnis lernte Bahar ihre persönlichen Kraftquellen und Stärken kennen. Ihr Mann erkannte seine Schuld an Bahars schlechtem Gesundheitszustand. Er versprach, sein Verhalten zu ändern und wollte seine Frau und seine Kinder in Zukunft unterstützen: „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass jemand mit uns über unsere Probleme spricht in einer Weise, die mich davon überzeugt hat, dass ich mein Verhalten verbessern muss. Ich glaube jetzt daran, dass wir unsere Probleme lösen können, indem wir mehr miteinander sprechen, statt aufeinander loszugehen.“

Familie hat nicht nur in Afghanistan einen bedeutenden Stellenwert und kann gesellschaftlich als zentrale „Agentin des Wandels“ wirken. Seit Ende letzten Jahres sind die Beraterinnen von Medica Afghanistan in praktischen Trainings und regem Austausch mit der indischen Frauenrechtsorganisation „The International Foundation for Crime Prevention and Victim Care“ (PCVC). Diese Organisation hat schon wertvolle Praxiserfahrungen mit der feministischen Familienberatung gemacht und ihren Ansatz fortlaufend weiterentwickelt. Im laufenden Jahr wird Medica Afghanistan das teils neu erlernte Wissen in ihren Beratungstätigkeiten aktiv einsetzen. Geplant ist, 2019 mindestens 50 Frauen und ihre Familien mit diesem Angebot nachhaltig in ein friedvolleres Zusammenleben zu begleiten.

Autorin: Christine Vallbracht, Online-Referentin bei medica mondiale

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