1. Oktober 2020
Sehr geehrte RepräsentantInnen,
vor 20 Jahren schrieben die BegründerInnen der Resolution 1325 Geschichte, indem sie nicht nur die brutale und unverhältnismäßige Realität von bewaffneten Konflikten für Frauen und Mädchen weltweit erkannt haben, sondern auch die Bedeutung ihrer gleichberechtigten Teilhabe an allen Aspekten von Frieden und der Sicherheit. Doch bei Betrachtung der Grundprinzipien der Agenda “Frauen, Frieden und Sicherheit” wird deutlich, dass – während es gewisse Fortschritte gegeben hat – diese Worte für die 264 Millionen Frauen und Mädchen in Konfliktgebieten auf der ganzen Welt mehr Theorie denn gelebte Wirklichkeit geblieben sind.
Unter den Stellungnahmen, die bisher von mehr als 138 führenden Vertreterinnen der Zivilgesellschaft aus 32 Ländern an den UN-Sicherheitsrat übermittelt wurden, war die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen eine zentrale Forderung. Sie haben Berichte darüber gehört, wie Frauen in Nord-Kivu ihr Recht auf Teilnahme am Friedensprozess in der Demokratischen Republik Kongo forderten, nur um mit den Worten abgewiesen zu werden, es gäbe “nur zwei Konfliktparteien” und Frauen seien keine davon; von afghanischen Frauen, die die internationale Gemeinschaft aufforderten, ihnen beizustehen und sicherzustellen, dass ihre Rechte nicht gegen ein Friedensabkommen eingetauscht werden; und von syrischen, jemenitischen und sudanesischen Frauen, die mit einer Stimme darüber sprachen, dass eine demokratische Zukunft in ihren Ländern ohne die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen nicht möglich ist.
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Ihre kollektive Botschaft war klar: in formellen Friedensprozessen wurden Frauen systematisch nicht einbezogen und dabei die Ungleichheit und Diskriminierung wiederholt, die Konflikte und Gewalt überhaupt erst verursacht haben. Wir haben Beweise aus 20 Jahren für die Ursachen und Folgen der Ungleichheit der Geschlechter und der Ausgrenzung von Frauen. 79 Prozent der bewaffneten Konflikte haben in Kontexten mit einem hohen Maß an geschlechtsspezifischer Diskriminierung stattgefunden, und die Forschung hat wiederholt bestätigt, dass die Ungleichheit der Geschlechter eine grundlegende Konfliktursache ist.
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Das Ziel der Agenda “Frauen, Frieden, Sicherheit” ist nachhaltiger Frieden und Sicherheit für alle Menschen; Konfliktprävention und Sicherstellung von dauerhaftem Frieden sind daher die eigentlichen Gründe für Inklusivität und die vollständige, gleichberechtigte und bedeutungsvolle Beteiligung von Frauen in all ihrer Vielfalt. Eine vollständige, gleichberechtigte und bedeutungsvolle Teilhabe bedeutet die direkte, inhaltliche und formelle Einbeziehung verschiedenster Frauen, damit sie das Ergebnis von Verhandlungen und anderen Prozessen und deren Umsetzung beeinflussen können.
Partizipation ohne die Möglichkeit, das Ergebnis zu beeinflussen, ist keine Partizipation, sondern Beobachtung. Um eine bedeutsame Teilhabe zu gewährleisten, müssen systemische Ungleichheiten und Diskriminierungen zwischen den Geschlechtern abgebaut, Hindernisse für die Teilhabe angegangen – darunter patriarchalische Strukturen, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt und mangelnder Zugang zu medizinischer Versorgung sowie die Unzugänglichkeit von Informationen über sowie Kommunikation innerhalb von Friedensprozessen und von Räumen, in denen sie stattfinden – und proaktiv sichergestellt werden, dass unterschiedliche Frauen einbezogen werden.
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Bedrohungen und Angriffe auf MenschenrechtsverteidigerInnen und FriedensstifterInnen sind inakzeptabel und wirken abschreckend auf ihre Beteiligung und Führung, insbesondere in Kontexten, in denen Frauen bereits kulturelle, politische, wirtschaftliche oder andere Hindernisse überwinden müssen, um ins öffentliche Leben zu gelangen. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, dass ihre integrale, unabhängige Rolle bei der Förderung der Menschenrechte, der Konfliktverhinderung und der Sicherung des Friedens anerkannt und verteidigt wird. Zum 20. Jahrestag der Verabschiedung der Resolution 1325 erheben wir unsere Stimme gemeinsam mit weiblichen Führungskräften und Aktivistinnen auf der ganzen Welt, um das der Agenda zugrundeliegende Prinzip zu bekräftigen – nichts weniger als die vollständige, gleichberechtigte und bedeutungsvolle Teilhabe von Frauen an allen Aspekten von Frieden und Sicherheit.
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Da die internationale Gemeinschaft ihre nächsten Schritte unternimmt, um neuen Herausforderungen für Frieden und Sicherheit zu begegnen, einschließlich Klimawandel und Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit wie COVID-19, ist es von entscheidender Bedeutung, dass in allen Prozessen die Beteiligung von Frauen priorisiert wird.
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2020 war bereits ein Jahr wie kein anderes, geprägt von Aufrufen starker sozialer Bewegungen gegen Rassismus und für einen tiefen, strukturellen Wandel, um die vielen Ungleichheiten zu überwinden, die durch eine noch nie dagewesene globale Pandemie offengelegt wurden.
Die Welt verändert sich, und alle internationalen AkteurInnen, einschließlich des Sicherheitsrates und der vereinten Nationen, müssen sich mit ihr verändern – Ausgrenzungen jeglicher Art sind heute mehr denn je inakzeptabel, insbesondere in Friedensfragen.
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Gezeichnet von medica mondiale und über 500 weiteren internationalen Non Governmental Organisations (NGOs).
Lesen Sie den ganzen Brief (PDF, Englisch) hier: Open Letter to Permanent Representatives to the United Nations on the occasion of the 20th anniversary of Resolution 1325 (2000)
Wir leben in einer Zeit, die geprägt ist durch bewaffnete Konflikte, gewaltsamen Extremismus sowie zunehmende staatliche Fragilität am Rande Europas und weltweit. Schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber der Zivilbevölkerung sind die Folge. Für Frauen und Mädchen bedeuten Kriege immer auch massive sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt. Nicht zuletzt angesichts dieser Entwicklungen befinden sich gegenwärtig fast 80 Millionen Menschen auf der Flucht.
Die Bundesregierung steht vor der Aufgabe, gemeinsam mit europäischen und internationalen PartnerInnen tragfähige Lösungen für diese Herausforderungen zu entwickeln. Diese dürfen nicht allein einer pragmatischen Logik folgen, sondern müssen menschenrechtlichen Anforderungen genügen. Der Schutz von Frauen und Mädchen in bewaffneten Konflikten sowie ihre volle Mitwirkung an Friedensprozessen tragen dabei erheblich zur Wahrung und Förderung des Friedens und der internationalen Sicherheit bei.
Zu diesem Schluss kam auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) und verabschiedete am 31. Oktober 2000 die Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“. Frauen und Mädchen sollen endlich vor sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt in bewaffneten Konflikten geschützt und gleichberechtigt an Friedensprozessen beteiligt werden – so der Sicherheitsrat. Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sind verpflichtet, die Resolution umzusetzen. So ist auch die deutsche Bundesregierung aufgefordert, der Resolution 1325 im Rahmen ihrer Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik Rechnung zu tragen und in ihrem Sinne zu handeln. Die wirksame Umsetzung der Resolution 1325 durch die Bundesregierung bedarf außerdem einer engen und kritischen Begleitung durch die Abgeordneten des Bundestags.
Die Bundesregierung, als einflussreiche politische Akteurin sowie wichtige Geldgeberin, kann hierzu einen bedeutsamen Beitrag leisten. Lange Zeit tat sie sich jedoch schwer, die Agenda “Frauen, Frieden und Sicherheit” ernst zu nehmen. Erst im Jahr 2012 verabschiedete die Bundesregierung ihren ersten Nationalen Aktionsplan. Dieser war wenig wirkungsorientiert ausgerichtet und auch der politische Wille für die Umsetzung war gering.
In der aktuellen Legislaturperiode misst sie der Agenda höhere Bedeutung bei und kann einige Fortschritte verzeichnen. So hat die Bundesregierung das Thema zu einem Schwerpunkt ihrer nichtständigen Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat gemacht. Gegenwärtig erarbeitet sie ihren Dritten Nationalen Aktionsplan, um der Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik Rechnung zu tragen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, den Nationalen Aktionsplan (NAP) 1325 mit einem eigenen Budget sowie ausreichend personellen Ressourcen auszustatten.
Wir fordern die Bundesregierung auf, ein transparentes und wirkungsorientiertes Monitoring- und Evaluierungsverfahren zur Umsetzung des NAP 1325 unter Beteiligung von Zivilgesellschaft einzuführen.
Wir fordern die Bundesregierung dazu auf, die Prinzipien der Resolution 1325 in allen relevanten Politikfeldern querschnittsmäßig zu verankern und umzusetzen – etwa in den Leitlinien für ziviles Krisenengagement.
Die deutsche Bundesregierung hat die Agenda „Frauen, Frieden und Sicherheit“ der im Jahr 2000 verabschiedeten Resolution 1325 zu einem Schwerpunkt ihrer Kandidatur für einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat für die Jahre 2019 und 2020 gemacht.
Die Resolution 1325 stellt im Gegensatz zum klassischen Sicherheitskonzept nicht den Staat in den Mittelpunkt der Sicherheitspolitik, sondern Frauen und Mädchen als Akteurinnen für Frieden. Sie spiegelt damit das Konzept der menschlichen Sicherheit wider.
Als erster deutscher Außenminister hat Heiko Maas wiederholt auf den „engen Zusammenhang zwischen Geschlechtergleichstellung, dem Schutz der Menschenrechte, nachhaltiger Entwicklung und der Wahrung von Frieden und Sicherheit“ öffentlich hingewiesen.
Werden die Interessen von Frauen beispielsweise in Friedensverhandlungen übergangen, hat dies Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft:
„An den Friedensverhandlungen zum Bosnienkrieg war nicht eine einzige Frau beteiligt, ihre Rechte und Interessen fanden keinen Eingang in das Friedensabkommen.“ so Jeannette Böhme, Referentin für Politik und Menschenrechte bei media mondiale.
"Heute sehen wir, dass sich ihre Traumata auf die nächste Generation übertragen, was in hohem Maße destabilisierend auf die bosnische Nachkriegsgesellschaft wirkt."
Patriarchale Machtverhältnisse müssen hinterfragt und überwunden werden. Es gilt, die Rechte von Frauen und Mädchen zu verwirklichen – überall. In den kommenden zwei Jahren hat Deutschland die Chance, hierfür im UN-Sicherheitsrat einzutreten.
Kommentar: "Mehr Haltung zeigen für eine feministische Außenpolitik!" von Jeannette Böhme
Audio-Beitrag "Feministische Außenpolitik als Chance" inklusive Statements von Jeannette Böhme
Umfassendes Dossier: „Feministische Außenpolitik“ der Heinrich-Böll-Stiftung